Pflege in Deutschland – was sich jetzt ändern muss
Pflegekräfte in Deutschland lieben ihren Beruf. Das zeigen die Umfragen immer wieder. Sie leiden aber unter ihren Arbeitsbedingungen. Um diese zu verbessern, ist seit Januar 2022 das neue Gesetz zur Entwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) in Kraft. So werden ab dem 01.09.2022 nur noch Pflegeeinrichtungen staatlich anerkannt, die mindestens ein Gehalt nach Tariflohn zahlen. Ab 2023 sind außerdem verbindliche Vorgaben für die Personalzahlen in Krankenhäusern geplant. Diese politischen Maßnahmen zielen in die richtige Richtung. Trotzdem gelingt es nur schwer, den Pflegekräftemangel zu überwinden. Wir informieren über die wichtigsten Ursachen und mögliche Lösungen.
Pflegenotstand und die wichtigsten Ursachen
Schon seit rund 20 Jahren fehlt es in Deutschland an genügend Pflegekräften. Die Corona-Pandemie hat diese knappe Personaldecke überfordert und einen Pflegenotstand ausgelöst. Seitdem gibt es viel Bemühen, diesen Notstand zu überwinden. In den kommenden Jahren werden Zehntausende neue Stellen besetzt werden müssen. Wer eine Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum -fachmann macht, blickt in einen Beruf mit Zukunft. Doch kurzfristig lassen sich jahrzehntelange Versäumnisse nicht beheben. Schritt für Schritt müssen die Ursachen überwunden werden. Dazu gehören:
- Schwierige Arbeitsbedingungen: Schichtdienste, viel Zeitdruck sowie schlechte Personalausstattung. 30 % aller Azubis brechen die Ausbildung ab, 60 % aller Pflegekräfte arbeiten nur auf Minijobbasis oder in Teilzeit, viele Pflegekräfte wechseln vor der Rente in einen anderen Beruf.
- 2017 ergab eine Untersuchung der Hans Böckler Stiftung: In Deutschland betreut eine Pflegefachkraft 13 Patienten. Das war der negative Spitzenwert. Zum Vergleich: In den USA betreuen Pflegekräfte nur ca. 6 Patienten während ihrer Arbeitszeit.
- Die schlechte Personaldecke sorgte 2016 für knapp 10 Mio. Überstunden pro Jahr bei den deutschen Pflegekräften. Zwei Drittel davon als unbezahlte Zusatzarbeit. Im Corona-Jahr 2019 lag die Zahl geleisteter Überstunden bei 14,8 Mio., davon 5,8 Mio. Arbeitsstunden unbezahlt. Beruf und Familie lassen sich so besonders schlecht miteinander vereinbaren.
- 50.000 – 80.000 Pflegekräfte gingen seit 2004 verloren. Ursache ist die damals eingeführte Fallpauschale zur Abrechnung von Krankenhausleistungen. Investieren Kliniken in Pflegekräfte, wirkt sich das betriebswirtschaftlich als Kostenanstieg aus. Investieren sie in Geräte und Ärzte, erscheinen die Ausgaben als Umsatzanstieg. Aus diesem Grund wurden kontinuierlich Pflegekräfte abgebaut.
- Niedriges Gehalt: Der Mindestlohn in der Pflege wurde angehoben. Für Vollzeitstellen liegt er zwischen 2.165 € und 2.669 € - je nach Qualifikation. Diese Bezahlung ist weiterhin zu niedrig, setzt man ihn in Vergleich zur Arbeitsleistung und der hohen gesellschaftlichen Bedeutung. Eine Rolle spielt, dass der Pflegebereich zu den frauendominierten Berufen gehört. Diese werden in Deutschland generell niedriger entlohnt als Berufe mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis oder männerdominierte Berufsbilder.
Was hat sich zwischenzeitlich verbessert?
Die größten Fortschritte betreffen die Gehälter. Hohe Nachfrage und erheblicher Fachkräftemangel sorgen seit rund zwei bis drei Jahren für attraktive Lohnangebote. Im Einzelnen hängt das aber von den jeweiligen Unternehmen ab. Das GVWG sorgt für eine Vereinheitlichung und allgemeine Lohnanhebung, wenn ab September 2022 ein Mindestgehalt nach Kirchen- oder Ländertarif gezahlt werden muss. Insgesamt bringen auch neue Zulagen und Zuschüsse eine Verbesserung. Vorteilhaft ist außerdem, dass die Pflegeausbildung reformiert wurde. Pflegekräfte können seit Kurzem flexibler entscheiden, ob sie in der Kranken- oder Altenpflege arbeiten möchten. Das geht mit einer Lohnangleichung einher, die Gehaltsunterschiede in der Alten- und Krankenpflege aufhebt. Das GVWG hat außerdem die Eigenverantwortlichkeit gestärkt. Pflegekräfte dürfen in größerem Umfang selbständig über die geeigneten Pflegemaßnahmen entscheiden. Das verbessert den beruflichen Status und entlastet gleichzeitig anderes Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Ein neues Berechnungssystem soll ab 2023 verbindlich festlegen, wie viel Pflegepersonal in den jeweiligen Einrichtungen mindestens angestellt sein muss. Halten sich Unternehmen nicht daran, sind Sanktionen vorgesehen. So kann die Personaldecke wieder erhöht werden.
Immense Wirtschaftsleistung, die kostenlos erbracht wird
Um die Arbeitsbelastung und starke Motivation von Pflegekräften zu erkennen, hilft der Blick auf die Zahlen. Die 5,8 Mio. unbezahlten Überstunden deutscher Pflegekräfte im Jahr 2019 haben einen umgerechneten Wert von 61 Millionen Euro oder 3.100 Vollzeitstellen in der Pflege. Obendrauf kommen 9 Millionen bezahlte Überstunden – ein Arbeitspensum für weitere rund 5.000 fiktive Vollzeitstellen. Pflegekräfte übernehmen neben ihrer normalen Arbeitszeit eine so hohe Zusatzleistung, dass sie Tausende von Vollzeitstellen damit abdecken und Hunderte Millionen Euro pro Jahr gespart werden. Das Motiv der Pflegekräfte? Sie arbeiten mit und für Menschen. Wie könnte jeder einzelne Pfleger „Nein“ zu Überstunden sagen, wenn dann Menschen nicht versorgt werden? Aber Pflegekräfte sind keine ehrenamtliche Einsatztruppe. Sie sollten ebenso wenig unbezahlte Zusatzleistungen erbringen müssen wie Angestellte im Verkauf, im Verkehr, im Finanzsektor oder in der Industrie. Der Widerspruch: Das Gesundheitswesen funktioniert nach Regeln der ökonomischen Rentabilität, aber im Zentrum der Arbeit stehen hilfsbedürftige Menschen. Ohne die Überstunden von Pflegekräften würden viele in gesundheitlichen Notlagen nicht versorgt werden. Diese Menschen sind wir selbst – in irgendeinem Zeitabschnitt unseres Lebens.
Was muss sich unbedingt ändern?
Pflegerische Hilfe gehört zu den Eckpfeilern unseres Sozialstaats. Wie das finanziert wird, ist die große Aufgabe – nicht nur für die Politik, sondern auch für die Pflege- und Krankenkassen sowie Unternehmen, die Kliniken und Senioreneinrichtungen betreiben. Es gibt einige Punkte, die weiterhin drängend sind:
- Pflegeberufe symbolisieren die Werte in unserer Gesellschaft
Pflegekräfte sorgen für Schmerzlinderung, Ernährung und Hygiene von Menschen. Ihr Status, ihre Bezahlung und ihre Arbeitsbedingungen müssen ausdrücken, wie wichtig uns als Gesellschaft diese Fürsorge ist. - Finanzielle Ungleichheit aufheben
Die AOK weist darauf hin, dass 90 % aller Pflegearbeit von Frauen übernommen wird. Aber fast nur Männer sind finanziell in der Lage, sich im Alter eine Langzeitpflege zu leisten. Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen muss generell überwunden werden. Pflege sollte auch nicht deshalb ein Frauenberuf bleiben, weil Männer die niedrigen Gehälter meiden. Die Mindestlöhne müssen noch stärker angehoben werden. - Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Die Arbeitszeitregelungen müssen durch mehr Flexibilität die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken. Unbezahlte Überstunden darf es gar nicht mehr geben. - Mehr Pflegekräfte und bessere Prävention
Um den Fachkräftemangel zu überwinden, braucht es noch viel mehr Menschen, die sich für die Pflegeausbildung entscheiden. Dafür müssen die beruflichen Rahmenbedingen stimmen – jenseits der Gehaltsfragen. Pflegekräfte benötigen eine bessere strukturelle Unterstützung durch sozialpädagogische oder psychologische Beratungshilfen und Teambuilding-Maßnahmen – sowie mehr berufliche Anerkennung. Pflege ist in vielen EU-Ländern ein Studienberuf. Er erfordert Wissen, er beruht auf Verantwortung. - Finanzierung der Pflege ändern
Das bisherige Finanzierungssystem von Kliniken und Einrichtungen über Fallpauschalen bringt viele Probleme mit sich. Im Bereich Pflege braucht es eine grundlegende Finanzreform. Hier ist noch vieles offen.
Im Ergebnis lässt sich sagen: Das Thema Pflege hat sich zu einem gesellschaftlichen Brennpunkt entwickelt. Vieles ist seit der Pandemie in Bewegung gekommen – doch es gibt noch viel zu tun, um die Probleme zu lösen.